Ich war am Lesen eines Liedtextes und mir ist was aufgefallen: Das finite Verb, das (davon war ich schon längst überzeugt) immer am Ende des Satzes steht oder zumindest stehen sollte, war nicht da.
"Ich werde in die Tannen gehen,
dahin wo ich sie zuletzt gesehen"
hier würde ich noch ein finites Verb erwarten, also "dahin wo ich sie zuletzt gesehen habe" oder "sah"
Woran liegt es denn, dass das normaleweise erwartete finite Verb nicht da ist?
Ich freue mich auf eure Antworten.
Liebe Grüße aus Brasilien
Rogério
Hallo Rogerio,
das "finite Verb" wurde schlicht und einfach ausgelassen, was aber stilistisch bei einem Gedicht möglich ist! Der Reim (gehen / gesehen) "entschädigt" sozusagen für das eigentlich zu erwartende "habe".
Ciao, Tamaraal.
"Jetzt, wo ich mir die Erklärung ausgedacht' / (habe),
hab' ich herzlich über mich selbst gelacht!"
(Oh weh!)
Hallo,
rein grammatikalisch ist das also falsch ? Spontan hätte ich nämlich geschätzt, dass dieser Satz so richtig ist. Vermutlich hört sich das für mich aber nur richtig an, weil ich solche Reime von Gedichten einfach gewohnt bin.
LG
Mueller
Das ist grammatisch nicht falsch, gehört aber in den Bereich der Poesie - kaum jemand wird sich so in der Prosa ausdrücken oder gar mündlich. Ähnlich mit der Unterlassung der Beugung des Adjektivs bei Neutra: kein schöner Land, lauter Gold, wobei letzteres auch außerhalb der Poesie vorkommen kann.
Wie du selbst sagst, Sprache ist nicht Mathematik und folgt nicht strenger Logik. Diese Form kommt in der (älteren) Poesie so oft vor, dass sie einem Muttersprachler kaum auffällt (Zauberflöte: Dies Bildnis ist bezaubernd schön, wie noch kein Auge je geseh'n!). Eine häufige Konstruktion ist die, die dir auffiel: (...) Partizip Perfekt (fehlendes finites Verb in Endstellung). Aber auch Beispiele wie dieses lassen sich finden:
Wer will nun jetzt zweifeln, wo solches kommt her,
dass Kisten und Kasten und Scheunen so leer? (/sind/ fehlt)
Ein Hauch von Logik liegt vielleicht darin, dass nichts anderes als das finite Verb folgen kann, und dann ist es, wenn fehlend, leicht und eindeutig im Geiste zu ergänzen und damit überflüssig. Nichts anderes geschieht, aus unserer Sicht, in deiner Muttersprache, wenn das Personalpronomen weggelassen wird - es ist entbehrlich, weil durch die Verbform schon festgelegt.
also: das Ganze läuft auf der Basis "dichterische Freiheit" PLUS alte Normen.
Dadurch, dass ge- vor das Verb gestellt wurde, um Reim und Versmass zu erhalten, kann auf "sein" (=haben) verzichtet werden. Heute spricht zwar kaum jemand so, es wäre aber absolut korrekt, diese Form so auch im Gespräch zu gebrauchen.
Wenn Dich dann jemand bzgl Deiner poetischen Ader aufzieht, darfst Du gerne auf Goethe und Schiller verweisen, denn diese Form des Sprachgebrauchs war zu deren Zeiten "normal" ;-)
Auch heute gibt es immer noch diesen tollen Satz:
Seit ich Dich im Traum geseh´n,
hab ich Angst, ins Bett zu geh´n.
(at) Nono: jeh, ich widersprech Dir nur ungern, aber auch in der Prosa wird es gerne so gehandhabt ;-)
Ich danke dir auch, kullanmuru.
Was mir auch aufgefallen ist, seit ich mich "tiefer, würde ich auf Portugiesisch sagen, mit der deutschen Sprache beschäftigt, ist dass ihr häufiger das Verb weglasst, wie zum Beispiel bei Bewegungsformen:
"Ich trau' mich nicht mehr auf die Straße, wenn es dunkel wird". Dieser Satz macht mir nur Sinn, weil der Akkusativ da steht.
Was Nonno übers Portugiesisch sagt, gilt nur für Verben, glaube ich, denn die Endung schon deutlich zeigt, auf wen die Konjugation bezieht.
Ja, Nono, ich stimme dir zu. Danke für deine zusätzliche Kommentare.
Das was im Gehirn passiert ist wirklich "merkwürdich.
Genauso wenn man sagt: Hast du das Buch dabei? Nein. Habe ich vergessen; Natürlcih steht das Verb "haben" immer noch in zweiter Position. (Das Buch) habe ich vergessen.
Der Satz ohne finites Verb ist mir aufgefallen, weil ich sowas noch nicht gesehen (hatte) hehe